Wäre das Konzept von "vereinigte Staaten von Europa" nicht cool?
Durchaus.
Zweifellos gibt es Gegebenheiten, die aus den europäischen Völkern und ihren Staatswesen eine "Gemeinschaft" machen. Denn fast alle europäischen Länder sind auf die eine oder andere Weise eng miteinander verbunden. Das hat einerseits geographische, andererseits historische Gründe, aus denen sich alles Weitere ergibt.
Zur Geographie muss nicht mehr allzuviel gesagt werden. Europa ist relativ klein, zahlreiche Länder drängen sich dort zusammen, die allein aufgrund ihrer Nähe immer zahlreiche Kontakte zueinander hatten und haben, mal friedlich, mal weniger friedlich. Die heutige EU ist vorallem das Ergebnis weniger friedlicher Lernprozesse.
Alle europäischen Länder haben ihre Anfänge in einer historischen Entwicklung, die sich vorallem in Antike und Mittelalter vollzogen und dann bis heute verfestigt hat. Die griechisch-römische Kultur verbreitete sich in ganz Europa, förderte die Ethnogenese auch in den nicht vom Römischen Reich direkt regierten europäischen Räumen. Daraus entwickelte sich, vorbereitet durch die sog. Völkerwanderung, im Laufe des Mittelalters das europäische Staatenwesen, das mehr oder weniger bis heute existiert. Das Römische Reich vermittelte als Teil seiner spätantiken Kultur auch das Christentum an alle europäischen Völkerschaften. Im Mittelalter verbreitete sich als einigendes Band eine christliche Kultur in allen europäischen Völkern und Ländern, die ihren Mittelpunkt im Papsttum Roms und einer Kirchenorganisation hatte, die bereits das Römische Reich kannte und dann auf ganz Europa ausgedehnt wurde. Die Kirche vermittelte zugleich die Kultur nicht nur des Christentums, sondern auch der Antike an Europas Völker. Sie schuf damit die Voraussetzungen für die umfassende Wiederbesinnung auf die Antike im Spätmittelalter, die sog. Renaissance, und die durch sie angestoßenen Fortschritte auf allen Gebieten menschlichen Daseins: Staatsordnung, Rechtswesen, Wissenschaften usw. Zwar zerbrach die kirchliche Einheit in Europa in der Frühen Neuzeit im Gefolge der Reformation, aber die alle Länder verbindende Gemeinsamkeit blieb das Christentum und es kam zusätzlich die Renaissance als gemeineuropäische Bewegung hinzu.
Die Mentalität der europäischen Völker ist durchaus differenziert aus den unterschiedlichsten Gründen. Zu gewissen Nuancen führten z. B. die unterschiedlichen Konfessionen und politischen Entwicklungen der katholischen, evangelischen und griechisch-orthodoxen Länder Europas, jedoch einte sie, über alle religiös-dogmatischen Gegensätze hinweg, das Bekenntnis zu antik-christlichen Wurzeln, die sie auch von nichtchristlichen Ländern abgrenzte.
Auch wenn in der Mentalität zwischen katholischem bzw. evangelischem Christentum auf der einen, dem griechisch-orthodoxen Christentum auf der anderen Seite Unterschiede zwischen den Völkern entstanden sind, so sind sie doch im heutigen Europa zur Kooperation befähigt, weil sie alle durch die Zeit der Aufklärung gegangen sind und gelernt haben, dass konfessionelle Gegensätze die Angelegenheit allein von Diskussionen zwischen Theologen sind, aber nicht (mehr) als Gewalttätigkeiten zwischen Bevölkerungen und Staaten ausgetragen werden dürfen. Es entwickelte sich religiöse Toleranz und Religionsfreiheit aller Menschen als eines der ersten, allgemein akzeptierten Menschenrechte. Religion war seit dem 17. Jahrhundert immer weniger eine entscheidende Triebkraft des politischen Umgangs der europäischen Staaten miteinander. Darin unterscheidet sich das christlich geprägte Europa fundamental z. B. von den benachbarten islamisch geprägten Länder, die zu dieser Erkenntnis noch gelangen und die Mentalität ihrer Bevölkerungen verändern müssen, um ihre Zersplitterung und Feindschaften zu überwinden.
Unter antik-christlichem Einfluss entwickelten sich die Idee der Menschenrechte, die sich in der europäischen Geschichte allmählich ausbreitete und heute die Grundlage des Zusammenlebens aller Völker ist, und das nicht nur in Europa. Vorallem die kriegerischen Erlebnisse des 20. Jahrhunderts, unter denen alle europäischen Länder zu leiden hatten, führten die Völker Europas in einem noch Jahrzehnte dauernden Prozess zur Erkenntnis, politische Gegensätze fortan einvernehmlich und friedlich zu lösen und die Menschenrechte, außerdem Demokratie, Rechts- und Sozialstaat zu den gemeinsamen Grundlagen ihres Zusammenlebens zu erheben. In der Folge wurde zunächst eine wirtschaftliche Union wichtiger europäischer Länder gegründet, die im Laufe der nächsten Jahrzehnte zu einer relativ lockeren politischen Union fortentwickelt wurde, um auf die Anforderungen der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung der Welt reagieren und sich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und kulturell als eigenständige Macht in der Weltordnung der Zukunft behaupten zu können. Die Entwicklung der EU ist noch im Flusse und längst nicht abgeschlossen, braucht offenbar immer wieder besondere Herausforderungen, um Fortschritte zu erzielen.
Noch ein Wort zu den Sprachen: bis weit in die Frühe Neuzeit hinein gab es, bei allen sprachlichen Unterschieden zwischen den Völkern, jedoch eine Sprache, die alle Länder miteinander verband: Latein als Diplomaten- und Wissenschaftssprache. Seit dem 17. Jahrhundert kam vorallem als Diplomatensprache und als Universalsprache vorallem des europäischen Adels das Französische hinzu. Wurde Latein seit dem 19. Jahrhundert in seiner Bedeutung zunehmend zurückgedrängt, so setzte sich die Sprache des damaligen Weltreiches, Großbritannien, durch und ersetzte sowohl Latein als auch Französisch in Diplomatie und Wissenschaft. Englisch ist auch heute in der EU die wichtigste Sprache der Verständigung, sowohl in Diplomatie und Wissenschaft als auch für die Verständigung der Völker untereinander. Ob es dabei bleibt, wird die Zukunft zeigen.
Die EU wird sich zu einem festen Staatenbund mit einer Zentralregierung und relativ, vorallem kulturell eigenständigen Ländern entwickeln. Das politische Zusammenspiel der Zentrale und der Länder sowie ihre jeweiligen Aufgaben, Pflichten und Rechte wird eine Verfassung regeln. Insofern kann die EU sogar zu einer "Nation" werden, wobei wesentlicher ist, dass sich ihre Völker als Schicksals- und Solidargemeinschaft verstehen. Denn das Zeitalter der kleinen Nationalstaaten geht nach über 200 Jahren allmählich dem Ende entgegen. Die Zukunft der Welt werden Großstaaten bzw. Staatenbünde gestalten, die z. B. in den USA seit rund 250 Jahren funktionieren. Dort gibt es 50 Bundesstaaten, die in weiten Bereichen nach wie vor souverän sind und die Mehrzahl ihrer inneren Angelegenheiten selbständig regeln, nach Innen und Außen aber dennoch als eine starke Gemeinschaft auftreten. Eine zum Staatenbund bzw. zu "vereinigten Staaten von Europa" weiterentwickelte EU kann das auch!